MUSIKALISCHE KINDHEITSERINNERUNGEN
Ein Schlüsselerlebnis meiner Kindheit, Schlüsselerlebnisse
- oder besser: nachhaltige Wirkungen von langer Dauer erzeugten
zwei Werke der Musikgeschichte, nämlich die Matthäuspassion
von Bach und die Zauberflöte von Mozart, und hier vor allem
der Einleitungschor der Bachschen Passion mit seinem Schwelgen über
Orgelpunkten und die Arien der Königin der Nacht und des Zarastro
mit ihren extremen Höhen und Tiefen. Zunächst hörte
ich diese Musik auf Schallplatten, etwas später - etwa zehnjährig
- erlebte ich solche Ereignisse dann auch im Konzert und Theater,
was mich - da sie selten waren - tief beeindruckte. Unmittelbar
danach versuchte ich gleich, diese Eindrücke in eigenen kompositorischen
Versuchen umzusetzen, heimlich natürlich, weil ich zwar Noten
lesen konnte, es aber mit dem Aufschreiben von komplexeren Gebilden,
die mir im Kopf herum spukten, haperte, und ich diese Unzulänglichkeit
niemandem preisgeben wollte. Musik, Konzertmusik, Oper, lernte ich,
aus dem oberschwäbischen Wilhelmsdorf stammend, hauptsächlich
über das Radio, über Schallplatten kennen. Und aus dem
Instrumentalunterricht, den ich etwa seit dem fünften Lebensjahr
als Einzelunterricht genoss. Zunächst erhielt ich bei der Leiterin
eines Mädcheninternats im Dorf Blockflötenunterricht,
die wohl kaum als Musiklehrerin ausgebildet, aber dennoch nicht
unmusikalisch war. Klavier fing ich bei meiner ersten Grundschullehrerin
an. Alles aber war gleichwohl "Vorbereitung", denn meine
Wunschinstrumente in klanglicher Hinsicht waren eindeutig Oboe und
Violoncello. Da es aber für diese Instrumente zu der Zeit im
weiten Umkreis meines Heimatdorfes keine Lehrer gab, musste ich
mich für ein anderes Instrument entscheiden. Die Wahl fiel
auf Geige, später mit ca. 13, 14 Jahren kam die Orgel hinzu,
die schließlich schnell zu meinem Hauptinstrument anvancierte.
Klavier lief die ganze Zeit weiter, auch bei meinem Orgellehrer
Paul Horn, Kantor an der Stadtkirche in Ravensburg.
[Aus: ...suchen nach..., in: Anfänge - Erinnerungen
zeitgenössischer Komponistinnen und Komponisten an ihren frühen
Instrumentalunterricht. Hg. v. Marion Saxer, Hofheim (Wolke Verlag)
2003]
KOMPOSITORISCHES SCHWEIGEN
Nicht "Schreibtischtäter", vielmehr jedoch in der kulturpolitischen
Praxis aktiv zu sein und der engagierten neuen Musik aus ihrer relativen
Isolation zu verhelfen. Dieses Bewußtsein führte in den
Jahren 1975 bis 1980 zu einem Extrem: meine ausschließliche
politische Tätigkeit dieser Jahre implizierte kompositorisches
Schweigen.
[Aus: "Angefügt, nahtlos, ans Heute," (1991)]
POLITISCHES ENGAGEMENT
Zunehmend fühlte ich mich von der exklusiven Musikmache angewidert
- sei es im Bereich Klassischer Musik gewesen oder in der Domäne
der Avantgarde - überall wo man hinkam waren auf der Bühne
oder im Publikum die gleichen Gesichter zu sehen, ob in Venedig,
Köln, Darmstadt oder Amsterdam. Auch die Hochschule war mir
zu eng. Ich wollte raus, wollte mehr mit "normalen" Menschen zu
tun haben, wollte, daß meine Musik, meine musikalischen Aktionen
etwas bewirkten oder zumindest mithalfen, etwas politisch zu bewirken.
Also raus! Die besondere Situation des Ruhrgebiets erhielt in solch
einer Phase der Politisierung, des intensiven Studiums der marxistischen
Theorie natürliche Bedeutung. Der Strukturwandel des Reviers,
d. h. das Schließen der Kohlezechen in den 60er Jahren, die
Stahlkrise in den 70ern brachten das Revier zum Brodeln. Hier waren
die Beteiligung an Streiks und das Organisieren von Demos wichtiger
als das Mitmischen in exklusiven Avantgarde-Zirkeln! Es war die
"heiße" Zeit, die dann in nahezu ausschließlich politische
Aktion mündete, mit Straßentheatergruppen zusammenarbeitend,
mit ihnen Stücke und Lieder produzierend und sie auf Straßen,
Plätzen und in Kneipen aufführend. In jüngster Zeit
werden solche Erfahrungen für mein Komponieren wieder wichtig.
Viele Dinge, die ich in den 70er Jahren mehr spontaneistisch oder
oberflächlich provokativ eingesetzt hatte, baue ich jetzt als
Strukturelemente mit in neu entstehende Kompositionen ein. Denn
obwohl "alle" Welt von einer neuen Ordnung faselt, hat sich im Grunde
nichts prinzipiell geändert und schon gar nichts zum Besseren.
[Aus: '... rote Fäden ...' Gespräch mit Johannes
Bultmann (1994)]
B. Über Musik und Gesellschaft
MUSIK UND ZENSUR
Die Sache ist rasch erzählt: Afghanistan wird des Terrorismus
wegen traktiert, mit mehrhundertfach besetzten Splitterbomben (u.a.),
denn dem Bösen, wo immer es ist, muss man mit geboten ebenbürtiger
Sprache begegnen und, weil man Werte hat, Werte zu verteidigen hat,
für die man zu Recht Kreuzzüge führen darf, fürsorglich
mit gelb-verpackter Güte, sprich: Essenspaketen voll von amerikanischem
Fastfood, zuhauf in bewohnten und unbewohnten Gegenden abgeworfen,
jedenfalls künden uns vor allem dies Bilder aus dem Hindukusch.
Erwachsene, vor allem Kinder rennen danach, Kinder, hungernd, die
am meisten unter den Wirren des Krieges zu leiden haben und, wie
überall, am neugierigsten sind und wissen möchten, was
da vom Himmel regnete... Doch Vorsicht! Auch die Splitterbomben,
weit übers Land verteilt, sind in gelbe Päckchen verpackt
und unterscheiden sich in ihrer Größe nur unwesentlich
von denen damit Nahrung. Also los Kinder, los mit dem Lineal und
messen, denn ein Zentimeter zu lang, ein halber zu breit könnte
das Leben kosten! Denn gelbe Splitterbomben explodieren oft spät,
nur ca. zu zwei Dritteln unmittelbar beim Abwurf und etwa zu einem
Drittel danach, und dann im Umkreis von 500 m alles Leben zerstörend.
Wann? Los also, und messt genau! Vergesst die Lineale nicht! Ganz
bestimmt fielen sie auch vom Himmel! Die genauen Maße aber?
Na, die kriegt ihr bestimmt selbst heraus! Den Bomben eine andere
Farbe geben? Das käme zu teuer.
Dies galt mir als Notiz zu meiner Komposition Gift/Gelb für
elektrifiziertes Akkordeon, E-Bass und Zuspielung, eine Allegorie,
die im Winter 2001/2002 für das Duo Interzone perceptible entstand.
Mittelbar, d.h. binnenstrukturell, hatte er mit Gift/Gelb zu tun,
und deshalb empfand ich es als wichtig, auf einen Umstand hinzuweisen,
dem deutsche Zeitungen bzw. Zeitschriften, wenn überhaupt,
nur Zeilen widmeten. Der geplante Abdruck im Programmheft zur deutschen
Erstaufführung während des Festivals KopfHörer im
badischen Bühl führte jedoch wegen seines angeblichen
Antiamerikanismus beinahe zur Absetzung des Stückes durch den
Leiter des Kulturamtes dort. So blank liegen also zurzeit schon
die Nerven!? Und wie schnell man hier zu Lande bereit ist, der langen
Geschichte von Zensur neue Beispiele hinzuzufügen, ist bekannt.
[Aus: Randtext zu einem Berliner Symposium über
politische Musik. (2002)]
SPONTAN ERLEBTE GEFÜHLE ZU BEWUßTEN EMOTIONEN ENTWICKELN
Unbestritten, notwendig ist Musik für die direkte Aktion und
dafür, daß qualitativ Neues geschaffen werden kann, dafür
steht nicht nur Eisler mit dem Solidaritätslied, dem "Roten
Wedding", dem "Heimlichen Aufmarsch" oder dem "Sang der Gesänge".
Unentbehrlich jedoch für einen langen Atem in der herben politischen
Auseinandersetzung um eine neue Gesellschaft ist aber auch Musik,
die spontan erlebte Gefühle vertieft, daran mitwirkend, sie
zu bewußten Emotionen zu entwickeln. Und möglich? - In
meinen Kompositionen suche ich Ansätze zu Lösungen. Um
vorweg klarzustellen: Musik vermag keine Gefühle hervorzubringen,
die nicht schon in der Realität erlebt sind. Spontan gerät
man in Wut, verfällt in Haß, liebt, wird wehmütig,
depressiv, traurig, fühlt sich vergnügt, frisch, beschwingt
... Aber alles in einer Beziehung zu ... Und der Anlaß von
Freude oder Empörung, Genugtuung oder Niedergeschlagenheit
kann durchaus derselbe sein. Je nachdem, wer man ist, wie man denkt,
was man gelernt hat zu fühlen.
[Aus: "Für später: jetzt". Gedanken über
eine Art zu komponieren. (1982)]
MUSIK UND UTOPIE
Der Komponist hat also anzusetzen an den vorhandenen "Vorstellungswelten",
an den Knäueln von Vorurteilen und verbogenen Gefühlen.
Die Schriftstellerin Anna Seghers würde sagen, er müßte
daran beteiligt sein, die "Erstarrung zu lösen", in die die
Menschen durch jahrelanges Einhämmern faschistischen oder faschistoiden
Gedankenguts, später wirklichkeitsvernebelnder, imperialistischer
Coca-Cola- und McDonalds-"Kultur" geraten sind. Als verantwortlicher
Komponist müßte er diesen Weg auch beschreiten, wenn
dafür zunächst nur enge Rahmen gesetzt sind und Möglichkeiten
- entsprechend der von oben gewollten Wende nach rückwärts
- weiter eingeschränkt werden. Doch da das Komponieren und
Musikmachen in einer dialektischen Beziehung zum politischen Entwicklungsprozeß
steht, ist man nicht auf utopische Hoffnung angewiesen, sondern
man kann die Verwirklichung der Hoffnung auf bessere Zeiten aktiv
unterstützen.
[Aus: "Für später: jetzt". Gedanken über
eine Art zu komponieren. (1982)]
TECHNIK DES HÖRENS (1)
Brecht sagte einmal, es gebe eine "Schauspielkunst" und eine "Zuschauerkunst".
Genauso gibt es die "Kunst zu komponieren" und die "Kunst zuzuhören".
Damit ist jedoch nicht nur angesprochen, daß man beim Hören
von Musik eine geistige Tätigkeit verrichten muß, sondern
sich dabei eine "Technik des Hörens" aneignen muß, die
mitzuentwickeln, auch ein Komponist gefordert ist. In verschiedenen
Stücken habe ich mich dem Problem gestellt. Sehr früh
mit Stücken, die das Publikum direkt einbezogen und provoziert
haben, mitzumachen.
[Aus: "Für später: jetzt". Gedanken über
eine Art zu komponieren. (1982)]
GRENZEN DER MUSIK
Natürlich steckte hinter der aus der Praxis geborenen Entscheidung,
nicht für den Konzertsaal zu schreiben, auch die Befürchtung,
daß in der Musik nicht sonderlich viel Veränderungskraft
stecken könnte, die das bürgerliche Publikum verändern
könnte. Natürlich wäre es verwegen, der Musik umfassende
Fähigkeiten zu Veränderungen überhaupt beizumessen.
Musik ist nur ein Teil der Künste und nur ein Teil der philosophisch
intellektuellen Mittel zu Veränderungen. Aber in diesem Sinne
keineswegs unwichtig. Ich kann mir aber trotzdem durchaus Situationen
vorstellen, in denen ich wieder ausschließlich Demonstrationen
organisieren und politisch unmittelbar aktiv sein müßte.
[Aus: '... rote Fäden ...' Gespräch mit Johannes
Bultmann (1994)]
DARUM GEHT ES
Darum geht es:
- um Musik, die sich mit der "Welt" auseinandersetzt, mit ihren
Bedingungen, ihren akustischen Bedingungen - seien sie gesellschaftlich,
also von innen, oktroyiert oder von außen, d. h. von einer
anderen Kultur (oder Macht) aufgezwungen;
- um Musik, die sich nicht mit den überkommenen Realien zufrieden
gibt, wenn sie sich direkt oder unterschwellig gegen den Menschen
richten, seine Empfindungen, seine Gesundheit;
- um Musik, die sich einmischt, Stellung nimmt, Position bezieht,
anstatt gesellschaftliche Übel und Mißstände zu
übergehen bzw. sie zu verkleistern, zu verbrämen;
- um Musik, die Probleme geradezu verschärft, ja toxisch
auf sie wirkt, Musik, die auf Wunden zeigt, sie als notdürftig
und damit gedrungenermaßen kurzfristig zu verdecken;
- um Musik, die auf Widerstand baut und in ihm Denken und Emotion
klärt, schärft, anstatt zu vernebeln und als Droge Illusionen
von Harmonie und Glück zu schüren;
- um Musik, die auf ihre spezifische Qualitäten setzt und
vielschichtig (damit aber nicht notwendigerweise kompliziert)
Nahrung für Geist und Seele bietet, also die kognitive und
emotionale Wahrnehmung erweitert, als sie zu korrumpieren und
auf ein Niveau des bloß animalischen Reagierens auf Gefühlsgüsse
zu reduzieren;
- um Komponisten, die den existierenden Problemen nicht erliegen,
sondern sich in ihrer Arbeit mit ihnen befassen, sie nicht dämpfen,
sondern benennen, Komponisten, die Anstoß erregen, stören,
ärgern, schockieren, um Verkrustungen in individueller und
gesellschaftlicher Hinsicht aufzubrechen, Panzerungen und Verstocktheiten
zu lockern und Perspektiven zu zeichnen, freier atmen und wahrnehmen
zu können;
- um Komponisten, die als Resultat einer klaren Sicht der Dinge,
eigene (alternative) Welten gegen den (meist) grauen Alltag erschaffen,
kompositorische Systeme, die allegorisch auf eine Veränderung
des Bestehenden zielen;
- um Komponisten auch, die dies mit Verve, Lust, Phantasie und
einer Heiterkeit tun, die positive Räume, "andere Räume
und Himmel" (Luigi Nono) erschließen. Und
- um Hörer, die bereit sind, sich zu öffnen, neugierig;
- um Hörer, die Störungen, Provokationen parieren mit
Nachdenken und eigenem Engagement;
- um Hörer, die - Schritt für Schritt - lernen, musikalische
Zusammenhänge als Teil kognitiver und emotionaler Erkenntnis
zu begreifen und zunehmend allergisch auf akustische (Umwelt-)Verpestung
reagieren, sei es durch Lärm direkt, durch überall sich
ausbreitende Hintergrundmusik oder subtiler - durch Musik selbst,
die - wie auch immer geartet - dumpfen Gefühlen folgt, sie
bestätigt, reizt oder aufputscht;
- um Hörer, deren Grundsatz es ist, das Offene, Unsichere,
Ungeklärte zu genießen, Hörer, die Fragen stellen
in der Absicht, keine "endgültigen" Antworten zu erwarten.
Konsequenz: Eine Musik, deren "Material" das ist, was um uns herum
passiert, jetzt mit seiner Vergangenheit, mit seiner möglichen
Zukunft, eine Musik, die gefärbt vom Ort, an dem sie entsteht,
spezifisch für eine jeweils bestimmte Situation;
- mit Komponisten, die das Unsichere als wichtiges, vielleicht
sogar als das entscheidendste Prinzip begreifen und außer
der eigenen inneren Welt auch das Außen kennen und mitwirken,
eine breite Basis für helle Ohren, weite Augen und wache
Sinne zu schaffen, und auf Fragen - als Antwort - neue Fragen
auswerfen;
- und mit Hörern, die ihrerseits fordern, daß neue
Musik dies voraussetzt und von heute aus das Alte beleuchtet,
das zu seiner Zeit einmal dasselbe zu leisten versuchte und daher
- mehr oder weniger verborgen - gleich fragendem Geist entsprang.
[Aus: Polyphonie von Welten (1999)]
MUSIK WECKT
Die Musik weckt die Zeit, sie weckt uns zum feinsten Genusse
der Zeit, sie weckt. es bleibt dabei, daß sie (die Musik)
zweideutigen Wesens ist. (Thomas Mann: Der Zauberberg) Gerade
hier hat die Musik besonderen Stellenwert, besonderes Gewicht. Sie
ist mehr-, vielschichtig, kommt deshalb als Gleichnis der komplexen
Realität sehr nahe. Besitzt viele Seiten, vom Wahn bis zur
Nüchternheit, von naiver Emotion bis zum kalkulierten Denken,
von überbordener Komplexität bis zu strenger, bisweilen
komplizierter Einfachheit und das gestattet ihr, Zusammenhänge
zu verdeutlichen, die sonst langer Erklärungen bedürfen.
[Aus: Nicht Traum. Traum: (1999)]
TECHNIK DES HÖRENS (2)
Denn es gibt eine Vielzahl von Graden der Wahrnehmung, die unterschiedlichsten
Blickwinkel. Genauso wie man in einer Galerie von einem Bild angesprochen
und von ihm in wenigen Augenblicken in den Bann gezogen werden kann,
näher und länger hinschaut, es immer genauer kennenlernt,
d. h. in seinen Zusammenhängen begreifen lernt, es in die Welt
hinein nimmt, genauso wie man zu einem Menschen in Bruchteilen von
Sekunden eine bestimmte Haltung kriegt, die durch weitere Kontakte
mit ihm bestätigt oder geändert wird - was eigentlich
nichts anderes als Analyse, Zusammenhänge verstehen ist -,
verhält es sich auch bei Musik. Bei einer ersten Perzeption
reagiert man (fast ausschließlich) emotional, "aus dem Bauch",
was viele - zum Kotzen! - für das Non-Plus-Ultra im Umgang
mit Musik und Kunst halten, oder nimmt je nach Fähigkeit oder
Bildung bereits dieses oder jenes analytisch, also verstehend wahr.
Beim zweiten oder öfteren Hören - durchs Heranziehen von
Noten, Hinweisen aus (Programm-)Texten zur Komposition z. B. - kann
man in weitere Bereiche vorstoßen, das Dahinter der Musik
ausloten und Verbindungen über das spezielle Werk hinaus herstellen
zu anderen Kunstsparten, zum Leben. Denn jede ernsthafte, wahre
Musik sollte das Angebot enthalten, sich (exzessiv) mit den Umständen
des Lebens auseinandersetzen zu können. Vielleicht genügt
es aber auch schon, wenn sie "nur Auslöser" wäre, zu denken,
um Gefilde zu entdecken, die man vorher nicht kannte, neue Gefilde
als Kontrapunkt zu zu ändernden Vorhandenen.
[Aus: Nicht Traum. Traum: (1999)]
MUSIK IST EIN DENKEN, DAS HÖRT
Wenn der surrealistische, belgische Maler Réné Magritte
meint: Meine Malerei ist ein Denken, das sieht, sollte es musikbezogen
heißen: "Musik ist ein Denken, das hört" oder zumindest:
"setzt ein Denken voraus, das hört."
[Aus: Nicht Traum. Traum: (1999)]
C. Über das Komponieren
KONSTRUKTION UND BEDEUTUNG
Im Prinzip ist eine Konstruktion zunächst Voraussetzung für
mich, um überhaupt ein Stück zu bauen, zu gestalten, und
die Ideen in eine Form zu bringen, die adäquat dem ist, was
ich ausdrücken will. Wenn jetzt dabei bestimmte Zahlenspiele
bedeutsam werden und bestimmte Namen von Personen, die in Verbindung
mit einer Konstruktion, mit einem Stück stehen, so ist das
eigentlich eher eine private Sache, die mit dem Hören einer
Komposition nicht transportiert werden muß. Am wichtigsten
ist, daß ein Komponist solide baut und das zum Tragen bringt,
was ihm inhaltlich vorschwebt.
[Aus: Hanns-Werner Heister: Namen und Zahlen (1991)]
Mit den Vorarbeiten zum Musiktheater "CassandraComplex" (1993/94)
entwickelte ich eine ausgewürfelte lange Ketten von Zahlen,
die schließlich in zahlreichen Kombinationen ganz und teilweise
mit ihrem "Krebs", ihrer "Umkehrung", ihrem "Krebs der Umkehrung"
als geschlossene Zahlenreihe zur konstitutiven Grundlage des gesamten
Werks wurde und dann - nach musikalisch-inhaltlichen Definitionen
- die verschiedenen Positionen der unglaubwürdig-blinden Seherin
charakterisiert - nicht, um enge, rein psychologische Koordinaten
zu setzen, sondern um Heterotopien zu schaffen, die Zusammenhänge
auch bei gegensätzlichsten Handlungen knüpfen und Erkenntnisse
im übertragen Sinne erfahrbar machen. Zu bestimmter Zeit und
an bestimmtem Ort aufgelesene, photographierte, bewusst aus konkreten
Zusammenhängen geronnene Zahlenreihen, die aus den Ziffern
1 - 9 und Null (manchmal auch aus rudimentären, artifiziellen
Texten) bestehen, spielen in sämtlichen Kompositionen danach
- unter verschiedenen Gesichtspunkten bearbeitet, charakterisiert
- eine wesentlich untergründige Rolle, Energien repräsentierend,
die nach allen Seiten strahlen; in der Anlage sind sie meist geheim,
weil mir dies in erster Linie eine Frage des Handwerks dünkt
und durch ausführliche Erörterung bisweilen vom emotionalen
Sinn ablenken könnte, manchmal direkter zu perzipieren, wie
etwa in einer meiner jüngsten Kompositionen, dem Chor "for
Kavafis" (2000), bei dem "den Jahreszahlen" seines bewusst geplanten
Oeuvres - wie Walter Benjamin es ausdrücken würde - musikalisch
"eine Physiognomie gegeben" wird; Jahreszahlen, die beim intim miteinander
Summen - das Werk besteht nur aus Gesummtem, gefärbtem Summen
- auch in Ausschnitten denkbar sind, irgendwann einsetzend, irgendwann
abbrechend, wie die Zeit, die wir erleben, wie eine Liebe, deren
Augen, erfüllt vom Moment des Liebens, glänzen wie ein
grauer Opal und - bewahrt im Gedächtnis, später, Kraft
und erfrischende Imagination spenden könn(t)en.
[Aus: Heterotopien Zahlen (2001)]
HÖREND UNMITTELBAR MUSIK ZU SCHAFFEN
Optimal eine Situation, in der ein Mensch künstlerisch so versiert
wäre, eine jeweilige Situation mit all seinen Sinnen zu beherrschen
und sehend, hörend, empfindend unmittelbar zu "antworten":
sehend unmittelbar Bilder zu entwickeln, hörend unmittelbar
Musik zu schaffen - ohne Umwege über Farben, Leinwand, Papier,
Instrumente, Computer, Lautsprecher ... in sich. Doch diese Situation
gleicht einer Utopie, obwohl immer wieder herausgefordert - in der
Bildenden Kunst etwa durch Kazimir Malevitsch, Mark Rothko, Yves
Klein, Barnett Newman, Richard Serra, Lee Ufan ...; in der Musik
durch Earle Browns "December 1952", John Cages berühmtes "4.33",
Dieter Schnebels sichtbare Musik "MO-NO", Kunsu Shims Serie von
(untitled)-Kompositionen oder - als Versuch, diese Erfahrungen zusammenzufassen
- in meiner Graphik "Hart auf Hart", die - entstanden aus Preiscodes
zum Code wird für musikalische Aktion - alle Grade musikalischen
Knowhows umfassend, vom bloßen Imitieren bis zu den kompliziertesten
Klangkonstellationen und -beziehungen unter den Spielern und im
Raum. Diese Beispiele stehen für Musik, die man entweder in
sich selbst, für sich gedacht vorstellen kann oder aus dem
Innern hinaus-/hinübergenommen werden mag in die Realität,
um sie dort weiterzumusizieren , zu komponieren. Sie sind Formeln
als Angebote, Schritte hin zur künstlerischen Gestaltung im
Akustischen.
[Aus: Hörendes Denken - Denkendes Hören (1995)]
KOMPONIEREN ALS METAPHER BESTÄNDIGER VERÄNDERUNG
Um (meinen) Prämissen gerecht zu werden, ist eine stetig neue
Definition musikalischer Mittel Voraussetzung. Ein vorfabrizierter
Stil, erst recht eine kompositorische Masche, wäre dabei fehl
am Platz. Da dies ein arbeitsintensives Verfahren fordert, und sowieso
ungeheuer viel (oder zuviel) komponiert wird, da man als Komponist
natürlich auch begrenzt an Kraft und Zeit ist, versuch(t)e
ich, der Maxime zu folgen, das zu "bearbeiten", was fehlt, genauer:
was mir zu fehlen scheint - eine immer vorhandene eigene Begrenztheit
und Unkenntnis einkalkulierend. Und weil Komponieren eine beständige
Auseinandersetzung mit der Perzeption, der kognitiven und emotionalen
Erfahrung ist, und damit "lehrt", kann es "pädagogische" Dienste
leisten - nicht als "trockene Theorie", sondern als Metapher beständiger
Veränderung.
[Aus: Polyphonie von Welten (1999)]
DER UMGANG MIT TECHNIK
Soll der neueste Techno-Gag, das aktuellste Programm, die wildeste
Materialschlacht tatsächlich Maßstab sein für die
Ästhetik, wie es so oft der Fall ist? Das Material läßt
sich nicht ständig revolutionieren. Da irrt Adorno. Wesentlich
ist der Einsatz, der Gebrauch des Materials aufgrund eines bestimmten
Inhalts, der Auseinandersetzung mit ihm, mit seinem Charakter, seiner
Geschichte. Nicht immer sind alle Facetten relevant. Manchmal treten
diese hervor, manchmal spielen jene eine Rolle. Das Problem bei
elektronischer, bei Computermusik ist vielfach, daß sich "Macher"
allzu schnell und zu oft von spontanen Klang(massen)konstellationen
beeindruckt zeigen und beim "ersten" Abhören zufrieden sind.
Der neueste technische Clou ersetzt das Hören, das kompositorische
Gestalten. Deshalb sind elektronische Produkte oft steril, tot,
wenn man sie ein zweites, ein drittes Mal hört. Es ist nicht
einfach, Strukturen zu finden, die halten, eine Dichte, die in die
Tiefe geht. Wahrscheinlich ist dies nur möglich, indem man
Hörerfahrungen bei der Produktion elektronischer Musik ernst
nimmt, ihnen vertraut. "Grillen" des emotionalen Hörens in
die Produktion einwirkt und eben komponiert, anstatt zu kollektieren,
was der Maschine in den "Sinn" kommt. Das zeitigt Auswirkungen auf
die Arbeitsweise, auf den Umgang mit der Maschine, mit ihrem Klang
- immer jedoch im Kontext mit dem entstehenden Werk! Das Reizvolle
beim Umgang mit elektronischen Medien ist, daß man, wenn man
sich - bei gesunder Skepsis - auf sie einläßt, das aktive
Hören mit seiner emotionalen und kognitiven Dimension zum Maßstab
des Komponierens erheben kann, bei dem alle spekulativen Verfahren,
alle konstruktiven Methoden sonst vorausgesetzt sind. Das schließt
die Akzeptanz von "zufälligen" Verläufen durchaus ein,
die deswegen aber eben keineswegs so zufällig sind, und eröffnet
damit - quasi in der Vereinigung von Komposition und Interpretation
- Perspektiven kompositorischer Freiheit. Klangliche, strukturelle
Entdeckungen hier fließen danach auch ins Komponieren ohne
Maschinen mit ein.
[Aus: Polyphonie von Welten (1999)]
METHODE ALS MITTEL
Das "über die Zukunft Träumen" fängt in der Gegenwart
(mit ihrer Vergangenheit) an: in der Analyse der Gegenwart (und
ihrer Vergangenheit). Und hat etwas mit Neuem zu tun, mit Suchen,
Erfinden, mit schöpferischem, phantasiereichem Umgang mit der
Gegenwart (und ihrer Vergangenheit). Mit der verantwortungsvollen
Anwendung neuer kompositorischer Methoden (oder deren bewußter
Vermeidung! Denn - so Helmut Lachenmann kürzlich in einem Interview:
An Fäden ziehen, bis es nicht mehr geht, kann entweder heißen,
daß die Fäden reißen, oder sie werden schlaff,
oder man wird zurückgezogen). Es hat also etwas zu tun
mit der verantwortungsvollen Anwendung neuer kompositorischer Methoden,
aber nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel, Wege zu beschreiten
- zum Einen, das aussteht und nottut (Ernst Bloch).
[Aus: Nicht Traum. Traum: (1999)]
HANDWERK UND PHANTASIE
Vervollkommnung ist eigentlich die Voraussetzung. Dazu gehört
das Handwerk des Komponisten oder des Interpreten, auf allen Ebenen.
Daß ein Komponist Qualität schafft und Sinnzusammenhang
stiftet braucht nicht betont zu werden. Wichtig ist seine Erfahrung,
sein Können, seine Phantasie. Und in diesem Zusammenhang treten
dann weitere Qualitäten ins Zentrum, die Fähigkeit beispielsweise,
sich kompositorisch auf eine Kommunikation mit anderen, gleichwertigen
Partnern einzulassen und seine Vorstellungen musikalisch zu diskutieren,
bestätigt zu sehen oder infrage stellen zu lassen.
[Aus: Über eine Komposition zu zwölft (1999)]
COLLAGE UND MONTAGE
Collagieren - wie es die Dadaisten taten - passiert in meiner Musik
nur ausnahmsweise, ich montiere und beziehe mich dabei auf eine
Art von Montage wie sie Sergej Eisenstein, die Surrealisten oder
- verwandter noch - der italienische Maler Francesco Clemente, aber
auch Hanns Eisler, Luigi Nono oder Nicolaus A. Huber gebrauchten
bzw. gebrauchen. Nicht das Zusammenfügen von Zitaten oder (von
anderen) vorgefertigten Strukturen spielt eine Rolle, sondern auf
anvisierte Inhalte hin entworfene und dann verwobene, untergründig
vernetzte Strukturen.
[Aus: Nicht Traum. Traum: (1999)]
BRICOLAGE SONOR
Versteht man unter bricolage sonor den Umgang mit Klängen
von Objekten aus Roh-Materialien (beispielsweise Leder, Holz, Glas,
Metall), die - abseits traditioneller Musikinstrumente - eigens
zur Klangerzeugung entwickelt werden, oder die Akzeptanz von objets
trouvés bzw. die Einbeziehung von ungewöhnlichen,
überraschenden, auffälligen, absonderlichen oder gar exotischen
Sounds als (Basis) Material kompositorischer Konzeption(en),
ergänzte der Begriff konventionelle Kompositionsmethoden und
bekäme - hauptsächlich zur musikwissenschaftlichen Klassifizierung
- eine gewisse Berechtigung, obwohl spätestens seit Cage ein
Auseinandertüfteln von Klängen gleich welcher Herkunft
und Güte überholt sein sollte. Bricolage sonor
so, mit solch offener Perspektive im Umgang mit Klängen
umzugehen, prägte zweifelsohne die resultierende Musik, hätte
Ausstrahlung auf Konstruktion und Struktur und verliehe ihr experimentelle
Verve und Beweglichkeit. Bricolage sonor bezöge sich
dann eher auf die Erweiterung kompositorischer Möglichkeiten,
als sie auf eine exklusive, sich auf ein selbstgefertigtes Instrumentarium
festlegende und herkömmliche Facetten ausschließende
Option zu beschränken; ...und rückte die Musik näher
an den Alltag, machte sie zeitgebundener, präziser (und stutzte
damit gewissermaßen ihre ach so "zeitlosen" Flügel).
Gleichzeitig wüchse allerdings die Gefahr, Musik mit direkter
(außermusikalischer) Semantik übermäßig zu
belasten und so die kompositorische Intention undeutlicher erscheinen
zu lassen. Und es öffnete auch der Pfuscherei, der Scharlatanerie
Tür und Tor, operierte man prinzipienlos mit dem meist visuellen,
gleichwohl nicht immer akustischen Faszinosum selbstgebauter oder
gefundener außergewöhnlicher Klangkörper und verfiele
in (blinden) Aktionismus, um Ideenlosigkeit - bewußt oder
unbewußt - zu überspielen. Bricolage sonor sollte in
jedem Falle das Material - ob "gut" oder "schlecht" , "wertvoll"
oder "wertlos" - einer kompositorischen Absicht, einer planerischen
Stringenz unterordnen und die Legitimation vom Inhalt einer Komposition
ableiten. Bricolage sonor akzentuierte so - neben der Einmaligkeit
von Klängen nichtkonventioneller Instrumente - auch die Spontaneität
augenblicklicher Klangerfindungen und rettete die Frische von Happenings,
aber auch die begeisternde Besessenheit allegorischer Fluxus-Aktionen
der 60er Jahre: Bricolage sonor als kompositorische Methode
entfaltete Kraft auch dann, wenn An-den-Rand-Gedrängtes, Flüchtiges,
sonst nur Angedeutetes ins Zentrum gerückt würde, und
setzte Gelassenheit und Heiterkeit gegen häufig anzutreffende
"Neue-Musik-Verbissenheit". Diese Konditionen reflektierend, durchzieht
Bricolage sonor wie ein roter Faden mehr oder weniger auffällig
meine gesamte kompositorische Arbeit: In den offenen Konzeptionen
bzw. Kompositionen ab '68 bis in die Mitte der 70er Jahre stehen
hauptsächlich Aktionen mit ready mades (Jahrmarktströten,
Spieluhren, Luftballons, Wunderkerzen, Streichhölzer, Sägen
etc. (z.B. in Dämpfe und drüber...für acht
aktive Schreier) oder ein Motorrad im Orgelwerk Mo-PED)
im Vordergrund. In den Werken der Arbeitsphase ab den 80er Jahren
erscheinen darüber hinaus bricoles mal als selbstgebaute
Objekte (z.B. in Wirbelsäulenflöte für konventionelle
Instrumente und Klangskulpturen des Essener Bildhauers Thomas Rother)
oder akustisches Material aus Radio-Werbung und Film (Wochenschauen)
(z.B. in fallen, fallen... und liegen und fallen), mal als
Walkman-Sounds (in Zeitsprünge), Klänge zersplitternden
Holzes (in den Ungaretti-Liedern), Tropfen schmelzenden Eises
(in O MURO), Computer- und Druckergeräusche (in TRAUM
1/9/92), stinkende Müllsäcke und tropische Düfte
(in Die Nacht sitzt am Tisch) oder erweitern das Instrumentarium
- wie in Co - wie Kobalt, bei dem sich der Orchesterklang
der akustischen Umwelt öffnet, und üben gleichzeitig Einfluß
auf die kompositorische Anlage aus.
[Aus: Rückprall (1995)]
D. Über Stille
STILLE IST UNVERZICHTBAR
STILLE ist unverzichtbar. Ihr Fehlen ist ebenso zerstörerisch
wie ihr erzwingen, das man gewöhnlich "Friedhofsruhe" oder
Totenstille nennt. Man braucht sie, um zu regenerieren, um Kräfte
zu sammeln; man nutzt sie zur Konzentration, zur Meditation, zum
Nachdenken ... um Neues vorzubereiten, also Altes abzubauen und
Neues anzulegen. Stille ist oft Dreh- & Angel-punkt, Drehscheibe
für Ende und Anfang, gleich der Nacht, über die vorher
die Rede war. Doch wo gibt es größtmögliche Ruhe,
Stille? Wo doch unsere Ohren immer offen sind, dagegen Augen, Mund
verschließbar? Absolute Stille gibt es nicht. Denn bei absoluter
Schallosigkeit käme die Bewegung zum Erliegen und damit letztendlich
das Leben. Der Versuch, Stille zu definieren, sie zu "begreifen",
zu "erfassen", bringt uns in ein Dilemma, trennt (direktes) Erleben/Sein
vom Nach-vollziehen/Bewußtsein (Wort und Ton stehen dabei
- freilich bedingt - für die Abwesenheit des Erlebten). Denn
- so Novalis - "... wovon man spricht, das hat man nicht". Allerdings
kann dieses Nicht-Haben bereits in die Stille vorverlegt sein (nicht
erst durch Wort und Ton), wenn nämlich das Bewußtsein
eingeschaltet und über "Fehlendes" nachgedacht wird.
[Aus: Silences. (Ver-)Schweigen. (1990)]
STILLE TRÄGT DIALEKTISCHEN CHARAKTER
STILLE trägt dialektischen Charakter, birgt als TOTAL die Gleichzeitigkeit
von entweder-oder, von Sein und Nichtsein, von Emotion und Einsicht,
von Sehnsucht, Hoffnung, Kraft und auch von Verzweiflung, Aussichtslosigkeit,
Zerstörung, Zerfall und Leere.
[Aus: Silences. (Ver-)Schweigen. (1990)]
STILLE/STILLE HALTEN - SCHWEIGEN/VERSCHWIEGEN
Ordentliche Bürger halten in der NAcht stille (Ventile sind
natürlich sorgfältig installiert). Ordentliche Bürger
achten darauf, daß auch bei Tag Ruhe herrscht. Ruhe muß
sein, unabdingbare Voraussetzung für Ordnung ... Dafür
wird geschwiegen ... ... und zum Schweigen gebracht. Und wo nicht
mehr geschwiegen werden kann, wird "geredet": geheuchelt, vertuscht,
verharmlost, verdreht, gelogen, verteufelt, gesegnet ... Wo aber
das "Reden, um zu verschweigen" nichts mehr nützt, wird gehandelt,
wird zu Mitteln der (staatlichen) Gewalt gegriffen (unterstützt
von - faschistischen - Handlangern), wird gemaßregelt, verfolgt,
verurteilt, eingesperrt; wird gefoltert, konterrevolutionärer
Umsturz organisiert, Krieg geführt ... Für die Tabuisierten,
Zensierten, von Berufsverbot-Belegten, Diskriminierten ... Ausgestoßen
heißt zum-Schweigen-gebracht und VERschwiegen zu werden oft
nicht nur UNterdrückung von außen, sondern kann als Folge
verzweifeltes In- und Auf-sich-Zurückziehen, Selbstbeschränkung,
Selbstzensur, gar Selbsttötung zeitigen. Für die Verfolgten,
Verschleppten, Eingesperrten, Gefolterten ... kann (staatlicher)
Terror nicht nur heißen, totgeschwiegen zu sein, sondern zum
endgültigen Schweigen gebracht, also tot-geschwiegen zu werden.
Mit äußerer Disziplinierung geht die innere Konfektionierung
des Menschen in allen Lebenslagen einher. "Ständiges Beschäftigen"
ist dabei Strategie: das Ausmerzen von Stille, denn es wird versucht
mit allen Mitteln die Hirne zu verkleistern. Diese "unablässige
Beschäftigung" läuft aufs Abstumpfen, aufs Abtöten
der Sinne hinaus. Dahinter steckt System, von Karl Marx und Friedrich
Engels einmal grundlegend analysiert; ein System der Entfremdung,
der Aufspaltung, der Aufteilung, der Vereinzelung, der Vereinsamung
des Menschen zur Ware, um fürs Ausgelaugt-Werden zu funktionieren.
Offenbar ist in diesem System STILLE (als Ort des NAchdenkens, der
Sammlung, der Zeit für sich selbst und somit gewissermaßen
Ort der Selbstrealisierung) verdächtig - ähnlich der "Nacht".
(Ausnahmen werden nur geduldet, wenn sie systemkonform bleiben.)
Sie ist tatsächlich insofern gefährlich, als erzwungenes
Stillhalten (das Sich-ducken-Müssen, das Erniedrigt werden,
das Degradiert-Werden zu Menschen minderen Werts) und Ruhe zum Nachdenken,
zum Analysieren einen Neu-Anfang in sich tragen. Im Schweigen, das
das Nicht-mehr-Können, das das Aus, das den Tod bedeuten kann,
steckt gleichzeitig der Anstoß für Empörung, Widerstand;
es gibt Signal zum Aufbegehren, zum Revoltieren. Denn "Friedhofsruhe",
"Totenstille" kann zwar grausam aufrechterhalten sein für Jahre,
doch begrenzt! Das lehrt die Geschichte, die selbst "1000 Jahre"
zu zwölfen zusammenzuschmelzen vermochte. Der deutschsprachge
Dichter Paul Celan (1920-1970) prägt dafür in seinem Gedicht
Argumentum e silentio den poetischen Begriff "erschwiegenes Wort".
[Aus: Silences. (Ver-)Schweigen. (1990)]
STILLE HÖREN LERNEN
Die desolate Situation wird vollends evident, wenn Komponisten "Stille"
komponieren - und damit Räume öffnen wollen für Phantasie,
für denkende Emotion. Da "Stille" jedoch im eklatanten Widerspruch
zum System der "ständigen akustischen Beschäftigung" steht,
hinterläßt sie - wenn nicht immer noch als Provokation
aufgefaßt - zumindest Ratlosigkeit. ... die Ohren beginnen
zu "brennen", besser: der Kopf ... weil man auf sich selbst zurückgeworfen
ist. Sprach-, nein "Hörlosigkeit" wird wahrnehmbar, und damit
das, was versäumt wurde; subjektiv natürlich auch, vor
allem aber durch den unsere Gesellschaft charakterisierenden Mangel
an Unvoreingenommenheit, Offenheit, Neugierde, Neuem, Unbequemem,
Andersartigem oder Andersdenkenden gegenüber - in welcher Beziehung
auch immer. Das schmerzt. Das zu ändern verlangt einen Typ
- einen offenen, nüchtern denkenden, klar analysierenden und
dennoch einfühlsamen - wie den der "Kassandra" von Christa
Wolf, die ihre Kassandra sagen läßt: "Ich lernte, indem
ich die Arten zu schweigen beobachtete." Wenn sich dieses Lernen
verbreitete und sich Hören und Denken so öffnen könnten,
daß sich die Ohren nur dann "blutig" schinden, wenn sie ...
bei heimtückischer Berieselung, bei rücksichtsloser Dauerbeschäftigung,
bei akustischem Leerlauf und einem Sonderangebot künstlich
hochgezüchteter uraltromantischer Emotionen und Haltungen ...
beleidigt werden. Viel wäre dann erreicht!
[Aus: "Man schindet die Ohren sich blutig an Noten!"
(1991)]
E. Über Einflüsse und die Musik anderer
FÜR MEINE KOMPOSITIONSÄSTHETIK VON GROßER BEDEUTUNG
Künstler stellten ihre Bilder (auf einem Flohmarkt in Ann Arbor,
Michigan) aus, die mehrdimensional gemalt, konstruiert sind: Menschen
vor, in und verwoben mit ihrer Umwelt, in merkwürdiger Abhängigkeit
von ihr und sie doch gleichzeitig dominierend. Der Mensch in der
Ambivalenz von Verstricktsein und Über-den-Dingen-Stehen. Ähnlich
dieser Malerei finden sich Vielschichtigkeiten in meinen Werken,
die unterschiedliche Annäherungen zulassen, unmittelbar emotionale
und kognitive, die Musik ist also in verschiedenen Richtungen ausgebreitet,
ausgedeutet, vernetzt. Nicht von ungefähr waren und sind Komponisten
wie Gesualdo, Purcell, C. Ph. E. Bach, Schubert, der späte
Liszt, Skrjabin, Satie, Cage, Nono sowie der russische Filmpionier
Eisenstein mit seiner dynamischen Montagetechnik und Maler wie Hieronymus
Bosch, Lichtenstein, Rauschenberg, Warhol und Dramatiker bzw. Dichter
und Philosophen wie Shakespeare, Balzac, W. Blake, Majakowski, Eco
und Foucault für meine Kompositionsästhetik von großer
Bedeutung.
[Aus: "Angefügt, nahtlos, ans Heute." (1991)]
FLUXUS
Ich möchte festhalten, daß ganz wesentlich die Fluxus-Bewegung,
deren Happenings und Aktionen, selbst Berichte davon, elementar
für mich waren. Etwa Nitsch aus Wien mit seinem Sudeln in Blut
rituell getöteter Tiere. Oder musikalische Aktionen von Cage
(Theatre Pieces z. B.) bzw. von Giuseppe Chiari, der ganz reduzierte
Musik schrieb, die ich jahrelang mit Vorliebe in Orgelkonzerte integrierte.
Nicht nur deren anti-bürgerliche Haltung zählte, sondern
auch die bestimmte Art von Skurrilität, verbunden mit einer
Art positiver Provokation.
[Aus: '... rote Fäden ...' Gespräch mit Johannes
Bultmann (1994)]
MUSIK AUS DEN VERGANGENEN JAHRHUNDERTEN
Musik aus den vergangenen Jahrhunderten hat immer eine Rolle in
meinem Leben gespielt. Meine erste Begegnung mit Musik überhaupt
war - neben Schlagern bzw. U-Musik, die mich aber von Anfang an
nicht sonderlich interessierten - eben alte Musik und deshalb war
mir lange die Musik zum Beispiel von J. S. Bach oder Schubert sehr
nah. Im Laufe des Studiums wurde für mich wichtig, die Musikgeschichte
dialektisch-materialistisch zu untersuchen, d. h. Musik in ihrem
historischen, sozialen Kontext zu verstehen und nicht bloß
Werke aus den verschiedensten Phasen der Geschichte x-beliebig aneinanderzureihen
und oberflächlich anekdotisch zu "analysieren" und bestimmten
Abschnitten im Leben eines Komponisten zuzuordnen, so wie es auf
dem Gymnasium oder auch an der Hochschule vorwiegend passierte.
Die inhaltliche Ausprägung bestimmter philosophischer Ideen
und politischer Vorgänge in der Musik der verschiedenen Epochen
interessierte mich besonders, um zu erfahren, daß es "rote
Fäden" in der Musikgeschichte gibt, die zunächst im Verborgenen
(unbewußt) geknüpft werden, um zum Mainstream zu werden
und dann wieder zu versiegen: ich denke dabei z. B. an die Herausbildung
bestimmter Formen autonomer Instrumentalmusik. Oder - verknüpft
mit dem Aufblühen der Bourgeoisie - auch das Entstehen der
Dur-Moll-Tonalität und ihre Entfaltung parallel zum Entstehen
des Virtuosentums und der funktionalen Aufsplitterung der Musik.
[Aus: '... rote Fäden ...' Gespräch mit Johannes
Bultmann (1994)]
QUERVERBINDUNGEN
Querverbindungen ziehen sich durch viele meiner Kompositionen: strukturelle
Grundlage etwa der Wirbelsäulenflöte stammt aus
der Purcell-Oper King Arthur. Schuberts erstes Lied Gute
Nacht aus der Winterreise verklammert in ... fürs
Vaterland:- Zeiten der Kälte, der (politischen und sozialen)
Bedrängung und der Bedrohung durch Krieg. Liszts pure Terzen
aus seinem Spätwerk schleichen sich untergründig in das
Akronym Den Müllfahrern von San Francisco ein und holen
sie damit herab aus der sonderbar entrückten Sphäre religiös-sozialen
Engagements. Satie, den ich erst in den 70er Jahren gründlicher
kennenlernte, ist - wie vieles von Cage - immer wieder - oft mehr
oder weniger kenntlich - präsent, inhaltliche Vorhaben verdeutlichend.
Prinzipiell korrelieren diese Hinweise auf andere Komponisten und
deren Werke immer mit einem speziellen kompositorischen Projekt
und der Situation, in der ich mich jeweils befinde, also der unmittelbaren
Gegenwart.
[Aus: '... rote Fäden ...' Gespräch mit Johannes
Bultmann (1994)]
LUIGI NONO/EDGAR VARÈSE
Nono'sche Methoden zu komponieren: Montage, Hinweise, Verweise und
Zitate auf und von Komponisten und Dichtern der vergangenen Jahrhunderte,
die Dialektik von Strenge und Freiheit, die gleichwohl ihre Wurzeln
im Davor haben, die Flexibilität der Faktur, sind (noch) nicht
stumpf, selbst wenn die Mittel von seinen klassisch geprägten
Erfahrungen, seiner kulturellen (insbesondere venezianischen) Umgebung,
seiner Generation und Herkunft auch, geprägt sind. Allerdings
sind Methoden wie Ideen und Inhalte Nono'scher Musik, die, immer
wieder auf die antike Mythologie bauend, Grundsätzliches, Allgemein-Menschliches
aufgreifen und - angeregt von fremden Kulturen - wenigstens spüren
lassen, daß es außer dem reichen Europa (mit seinen
Armen) auch andere(s) gibt: weiterzudenken, weiterzuentwickeln und
zu radikalisieren nicht mit Muskelspielen, effekthaschendem Äußern
oder modischen Mätzchen, Hohn bzw. Sarkasmus etc., sondern
durch Unterminieren verkrusteter, verfestigter Strukturen, in die
wir auf allen gesellschaftlichen Ebenen gezwängt sind oder
- schlimmer noch - die bereits unsere Hände und Gedanken lenken,
als wäre das (Selbst-)Verbiegen, das (Selbst-)Verdrehen, das
(Selbst-)Zensieren unsere ureigenste Sache. Wie Varèse hielt
Nono den Klang für einen lebendigen Organismus - Varèse
nannte ihn son organisé und maß ihm innewohnende
Intelligenz zu - und legte großen Wert auf Räumlichkeit,
indem er Musiker im Raum verteilt auftreten läßt, um
gleichzeitig unter Einsatz von Elektronik, den Raum durchdringend,
neue Dimensionen zu schaffen. Obwohl Varèse kompositorischen
Wert auf von einander unabhängige Klangschichten legte, erzielen
sie doch - was Intensität, Farben, Tonhöhen und insbesondere
Rhythmus angeht - intern äußerst differenzierte Beziehungen.
Nono arbeitet (noch) integraler, durchwirkt das gesamte Material
in der Tradition Schoenbergs und Weberns und verleiht ihm zusätzlich
eine historische Aura. Eine Gemeinsamkeit von Varèse und
Nono, so unterschiedlich die einzelnen kompositorischen Ausprägungen
selbst innerhalb des Werkes beider auch erscheinen mögen, nahm
mich - fasziniert aus rationalen Erwägungen - in Bann: das
Klar-Konstruierte und zugleich Offene der Form.
[Aus: ...yes, No-no... (1997)]
JOHN CAGE
Cages Ansatz beflügelte die Phantasie, Abgestandenes, Verstaubtes
im musikalischen Denken und Werk auszumisten und Musikern/Interpreten/Spielern
wieder Eigenverantwortung zuzugestehen, um in seinen Kompositionen
- nach Metzger - in der Konzeption der Versuchsanordnungen seiner
Experimente anarchistisches Zusammenwirken zu erproben und bei
weitestgehendem Heraushalten des kompositorischen Subjekts, größtmögliche
Objektivierung des künstlerischen Urteils (Geschmacks) und
maximale Freiheit der Interpreten zu erzielen. Zweifel sind angebracht.
Den lange Zeit verfolgten Versuch, "absichtslos", aus dem bloßen
Zufall heraus und alle Arten von Klänge akzeptierend zu komponieren,
hat Cage selbst zurückgenommen, indem er im Spätwerk verschiedentlich
auf die Harmonik eigener Kompositionen aus den 40er Jahren zurückgreift
und damit zusätzlich zur Akzeptierung des Subjekts als vorbestimmenden
Faktor für die Festlegung der Ausgangskonstellationen eines
- dann vom Zufall regierten - Kompositionsexperiments beibehält,
sondern - ganz im Sinne der alten Meister - auch wieder auf die
Definition des Klangsystems im Voraus Wert legt. Wogegen nichts
einzuwenden ist, wenn es nicht verschleiert oder ideologisch verbrämt
wird. Und ob die Bezeichnung "espressivo" (darunter versteht Cage
die Selbstverantwortung eines Musikers für seinen eigenen Klang/Ton,
den er zu spielen hat) in 103 für Orchester mehr ist
bzw. eine größere Freiheit darstellt als die Verantwortung
der Interpreten von Kammermusik sonst, ist äußerst fraglich.
Nun ja, es sind (bösartig gesagt) kleine, kurze Schritte der
Freiheit im aufs 19. Jahrhundert fixierten Orchester, die das Drumherum,
den Apparat/das System nicht antasten. Cage organisierte in vielen
Kompositionen und Konzeptionen naturalistisch das "Jetzt" (berühmtestes
Beispiel 4:33), bestätigte damit den Trend der Gesellschaften
der "1. Welt" zur Seßhaftigkeit (denn wenn jeder seine eigene
Musik schon um sich herum hat, kann er zuhause bleiben. Musik hören
erübrigte sich, gleichso das noch Komponieren) und fügt
sich mühelos in die Epoche der "Simulation", wie der Architekt
und Schriftsteller Paul Virilio in seinem Essay "Rasender Stillstand"
das ausgehende 20. Jahrhundert charakterisierte. Das musikalische
Potential - allen provokatorischen Stachels beraubt, den die aufmüpfigen
Stücke der 60er und 70er Jahre noch hatten und deren radikalen
Realisationen Cage in seinen letzten Jahren oft nur widerwillig
folgte - bleibt nicht fortschrittlich, sondern beginnt zu kreisen
und genügt sich selbst. Der "Traum:", die Utopie wird "eingeschreint"
und verkümmert. Dennoch bergen Cages Positionen gerade der
50er bis 70er Jahre Chance und Angebot, die Offenheit, Flexibilität
zu nutzen und nutzbar zu machen.
[Aus: Nicht Traum. Traum: (1999)]
F. Über einzelne Kompositionen
AMTRACKS
AMTRACKS - Eine Audioassamblage für 7 Vokalisten, ein
für die Kunstzeitschrift ARTIC entstandenes, während eines
USA-Aufenthaltes im Frühjahr 2004 skizziertes und danach auf
Kreta ausgearbeitetes Konzertstück bzw. Musiktheater, verwendet
Ausrisse verschiedenster Publikationen, die Entwicklungen der US-amerikanischen
Gesellschaft nachspüren - nicht nur aus Zeitungen oder Zeitschriften
der Monate April-Juni 2004, sondern auch aus "The Emancipation Proclamation",
in der 1862 Präsident Abraham Lincoln den amerikanischen Sklaven
Freiheit versprach, aus dem "USA Patriot Act", der nach den Anschlägen
auf das New Yorker World Trade Center und das Pentagon am 11. September
2001 das wehrhaft Patriotische im so genannten "Kampf gegen den
internationalen Terrorismus" auf die Agenda setzt, und aus dem Buch
"Guns, Germs, and Steel" von Jared Diamond, das Wurzeln der amerikanischen
Gesellschaft bloßlegt, Folgen der europäischen Invasion
der "Neuen Welt". Kontrastiert werden diese artifiziellen Fragmente
von zwei Gedichten der antiken Dichterin Sappho, die - obwohl durch
Jahrhunderte erodiert - ein tiefes Verständnis für das
menschliche Schicksal durchscheinen lassen. Für Sappho ist
das Herz, die Bewältigung des Zorns über Schmerz und Anschuldigungen
zentral; nicht die Befleckung des Rufs kann ihr etwas anhaben, nein,
sie empfindet das Suchen von Antworten, das Erfahren der Sinne,
die Öffnung für andere Gedanken, andere Konzeptionen als
Mittelpunkt des Lebens, für sie ist ein anderer Geist, der
Geist derer, die gesegnet sind, Maßstab - und Alternative
zu dem, was die politische Öffentlichkeit (meist besseren Wissens
zum Trotz) setzt, um zu beschränken, einzuengen, Zwietracht
zu säen, zu disziplinieren...
[Aus: Beitrag über Vokalwerke in der Kunstzeitschrift
ARTIC (8-2004)]
CASSANDRACOMPLEX - Musiktheater nach "Kassandra" von Christa
Wolf
Die Figur der Kassandra hat mich deswegen immer fasziniert, weil
in jeder Zeit meines Lebens sofort Parallelen zur Gegenwart sichtbar
waren. In den 60er, 68er Jahren war mir bewusst, dass Entwicklungen
in der Gesellschaft deutlich sind, aber nicht wirklich akzeptiert
werden und auch nicht darauf eingegangen wird, sondern nur an Symptomen
herumlaboriert wird. Und das ist eigentlich eine Charakterisierung,
die bis heute gilt und wohl auch noch einige Zeit gelten wird. Anfang
der 80er Jahre kam zu meiner großen Freude ein Roman, eine
neue Beschäftigung mit dem Stoff durch Christa Wolf, die mich
sofort in Bann zog aufgrund der neuen Perspektive, die sie zur Mythologie
oder über die Mythologie hinaus gesehen hat und die auch auf
heute eine Übertragung zuließ.
Ein ganz wichtiger Bereich der sich mit der griechischen Mythologie
geändert hat, ist die Funktion der Frau. Mit Apollon wurde
das "Licht" installiert und mit diesem Licht wird der
Beginn bzw. die Installierung des Patriarchats und die Aufhebung
des Matriarchats umschrieben. Mit Kassandra ist durch Christa Wolf
eine Figur wiederentdeckt, die beginnt, dieses angebliche "Dunkle"
des Weiblichen gegen das Licht zu setzen und in ein Gleichgewicht
zu bringen. Dieser Apollon bekommt eigentlich von Kassandra seine
Macht, wird also gemacht. Das ist ja das Verhängnisvolle,
was uns die ganzen 2000 Jahre danach ständig in Katastrophen
getrieben hat: Dieses Unausgeglichene zwischen dem Männlichen
und dem Weiblichen.
[Aus: ... auf dem St.-Andreas-Graben sitzen (1997)]
In Vorbereitung der Oper CassandraComplex gebrauchte ich
zum ersten Mal eine geschlossene Zahlenreihe, durch deren beständig
abgewandelte Definition komplexe Vorgänge nachgezeichnet werden.
Gewürfelt, definiert sie zunächst verschiedene Kassandra-Studien,
deren Strukturen später in die Oper einfließen, thematische
Pfeiler markierend; denn jede Studie behandelt für sich bestimmte
Grundsituationen der Erzählung "Kassandra" von Christa Wolf,
die schließlich zur Basis von CassandraComplex werden.
[Aus: ...yes, No-no... (1997)]
DEN MÜLLFAHRERN VON SAN FRANCISCO
... so weckten mich einmal - in San Francisco - frühmorgens
Müllarbeiter ziemlich jäh, vor allem durch ihren Wagen.
Zuerst war ich verärgert, weil er wahnsinnigen Lärm von
sich gab, der sich direkt in meinen Kopf bohrte und im Gehirn verkrampfte.
In gut einer Viertelstunde löste sich aber der Krampf, mußte
sich lösen, weil ich allmählich von den lauten Klängen
des Müllautos derart fasziniert war, dass ich die unfreiwillige
Unterbrechung des Schlafens vergaß. Es waren Klänge,
äußerst klar konturiert, und immer von ziemlicher Dauer:
Geräusche vom hydraulischen Auffahren und Aufklappen der hinteren
Luke und dann während das Fahrzeug offen war, der Sound einer
- meist erschreckend reinen - großen Terz, die plötzlich
in ganz tiefe Frequenzbereiche zusammensackte. Das blieb im Gedächtnis
haften, setzte sich fest, schließlich habe ich es auch notiert,
und es wurde Bestandteil der Komposition, die ich den Müllfahrern
von San Francico widmete. Der Untertitel lautet: Ein Akronym
aus akustischen Erinnerungen an eine Reise (wobei der Singular
hier natürlich als pars pro toto zu verstehen ist). Ein Akronym
ist ein aus mehreren Buchstaben zusammengesetztes neues Wort. Hier
handelt es sich allerdings statt um ein Wort eben um Musik, die
von unterschiedlichsten Einfüssen und untergründig wirkenden
Mechanismen geprägt ist. Konstitutiv für das Rhythmische
sind dabei - gleichsam geheim, weil unhörbar bzw. nicht direkt
hörbar - weite Teile des Gedichtes Amerika von Allen
Ginsberg, der auch eine Zeitlang in San Francisco lebte. Das Gedicht
ist hier nämlich codiert, d. h. in Morserhythmen übertragen:
Buchstabe für Buchstabe, Wort für Wort, Zeile für
Zeile, die bei sich ständig ändernden Binnenrhythmen zunächst
auch sukzessiv ablaufen, sich dann aber verdichtend übereinanderschichten.
[Aus: Call a Spade Spider a Spade. Rückstahlungen
von Reisen (1992)]
INTERNET-ZYKLUS
Die Struktur des Internet ist von enormem, eminent künstlerischen
Reiz. Sie "arbeitet" wie eine Komposition, verknüpft alles
mit allem, lässt direkte, indirekte, Um- und Abwege zu und
bindet durch das "Surfen" das zufällige Entdecken, das Aufhorchen
bei etwas, was man bisher noch nicht wahrnahm, das genauere Hinsehen
bei bisher Unbekanntem, kurz die Welt des Zufalls (im Sinne von
Chance) mit ein. Natürlich ist das Vorgaukeln der allumfassenden
Präsenz Trug, wesentlich ist (und bleibt) das Fragmentarische,
über das auch das Internet nicht hinauszureichen vermag, aber
durch seine Buntheit, seine Vielfalt Prozesse vielgestaltiger verfolgen
läßt. Umgekehrt ebenso: Das was einmal gedacht, erforscht,
gestaltet war, ist auch in Ansätzen, Andeutungen, bei Fragmentierung
präsent. Implizit entsteht aus der Internet-Idee - fast automatisch
- die Anlage unzähliger Stücke. Das INTERNET-Projekt,
das Ende November 1995 auf einer Reise nach Barcelona konzipiert
und mit INTERNET 3.2 für Mezzosopran, Klavier und
Schlagzeug in den Monaten danach erste Gestalt annahm, geht von
diesen Überlegungen aus und nimmt Internet-Strukturen als Prinzipien
der Komposition. Vier Stücke strike the ear (1987/88),
Nachbeben und davor: (1988/89), Den Müllfahrern
von San Francisco (1989/90) und Zeitsprünge (1990)
geben das Fundament, das Material, durch das "gesurft" wird. Die
Zahlenreihe BAB(ylon), im Frühjahr 1994 in Japan notiert, triggert
die Auswahl von bestimmten Akkorden aus diesen Stücken und
lässt Schichten entstehen, die trotz zerstückelten Zitierens
innere Verbindungen aufweisen, weil die Kompositionen, die zugrunde
gelegt sind, jeweils eine eigene Entstehungsgeschichte, einen unverwechselbaren
Inhalt und damit eine prägnante Struktur aufweisen.
[Aus: Gefahr und Chancen (1997)]
Journal 9´1119
JOURNAL 9´1119 für Flöten, Schlagzeug,
Tonband und Gerüche enstand 1996 am Zentrum für Kunst
und Medientechnologie in Karlsruhe im Auftrag des Duos Archaeopteryx
und greift dabei als musikalisches Protokoll - in enger Verwandtschaft
zur gemeinsam realisierten Musik des Tanztheaters Kassandra von
Birgit Scherzer und Matthias Kaiser für das Staatstheater Saarbrücken
- unter anderem auch auf die beiden [...] Kompositionen der letzten
30 Jahre zurück, auf Material aus ...strike the ear...
einerseits und auf einige von mir interpretierte vokale Passagen
aus dem zweiten Teil [...] von drüber andererseits.
Beide Stücke - ebenso wie die Komposition Kassandra für
Schlagzeug und Stimmen - setzen sich mit Strukturen der Macht auseinander,
mit körperlichen, physischen und mentalen; drüber sehr
direkt, indem dort Konflikte, Abhängigkeiten, das Be-Herrschen
auf die Spitze getrieben im Schrei oder Nicht-mehr-schreien-können
enden, um dann - mit musikalischen Mitteln - die Auswirkungen physischer
und psychischer Verknotungen in der Kommunikation unter Menschen
analysieren zu können. ...strike the ear... nimmt
sich dagegen von außen auf den Menschen zukommende Verhältnisse
vor und lenkt das Hören auf Strukturen, die unsere Gesellschaft
abstumpfen und so zu zentrieren versuchen, dass Gleichschritt das
Maß aller Dinge zu werden droht. JOURNAL 9´1119
verknüpft diese Ansätze, fass sie zusammen und vertieft
sie dadurch, dass die Musik hier teils mit ihrer massiven Klanglichkeit,
teils mit ihrer Zerbrechlichkeit, ihrer offenen Brüchigkeit
- live und auf Band, hörend und sehend und riechend - in emotionale
Tiefenschichten vordringt, um allegorisch auf ein Gefüge gesellschaftlicher
Zwänge und Macht zu weisen, in denen wir stecken - unscheinbar
oft, verborgen. JOURNAL 9´1119 "referiert" musikalisch
Abläufe des Alltäglichen und weitet sie im Dialog der
beiden Spieler über Kommunikationsnetze zu "Drahtseilakten"
zwischen dem Hören sich untergründig, zwischen kaum merklich,
aber dennoch allmählich sich verändernden Klängen,
peitschend-nervenden "Ohrenstechern", dem warmen Schein fluoreszierenden
Plastiktands und knisternd-stinkendem Fett, mit dem heutzutage landauf,
landab Gaumen beleidigt werden. JOURNAL 9´1119 ist
jedes musikalische, visuelle und olfaktorische Mittel recht, wenn
es nur sensitive Gratwanderungen erlaubt, die ähnlich in vielen
Alltagsbereichen zu beschreiten nötig wären; Alltagsbereiche,
die jedoch oft - aus Bequemlichkeit, aus Mangel an Distanz - weiß
bleiben.
[Aus: ...weiße Räume erkunden..., in: Hg:
C. Brüstle, M. Rebstock, H. Schulze: musik/politik, Saarbrücken
(Pfau) 2004 (=Musik im Dialog V)]
SÜNDE. FALL. BEIL.
Gleich Vorgängen in einigen der skurrilen Maschinen von Jean
Tinguely, versucht die Musik zur königlichen Oper Sünde.
Fall. Beil., die toten Schädel in Bewegung zu setzen, d.
h. mit Mitteln der Montage und der subkutanen Aufladung von semantischen
Beziehungen, die durchgängige Story zu vernetzen, zu kontrapunktieren,
zu konterkarieren, die handelnden, wandelnden Möbel gleichsam
akustisch auszuleuchten. Dabei basiert die musikalischen Struktur
auf wenigen kurzen, prägnanten Begriffen, die den inhaltlichen
Rahmen abstecken und umgesetzt in (Morse)-Rhythmik den musikalischen
Verlauf bestimmen (
siehe
Semantik-Kreis). Freilich nicht eindimensional, sondern als
Keimzelle größerer struktureller Einheiten, die wiederum
selbst zu einem semantischen Komplex werden und als "gesetzte" musikalische
Struktur nach vorn bzw. zurück verweisen, also Zusammenhänge
herstellen, wo auf den ersten Blick bzw. beim ersten Hinhören
keine zu sein scheinen, oder die bisweilen auch negieren, was auf
der Handlungsebene passiert, und somit stören. Denn viele rhythmische,
desgleichen dynamische, klangfarbliche bzw. Frequenz-Strukturen
sind abgeleitet von der Umsetzung bestimmter Worte oder Wort-Ketten,
die in Bezug oder Widerspruch zum unmittelbar im Gesang Ausgedrückten
stehen.
[Aus: Sünde. Fall. Beil. (1992)]
TIME•OUT
TIME•OUT zielt mit seinem Titel auf verschiedene Anforderungen
an Zeit, an die immer beengter werdende Zeit unmittelbarer Kommunikation,
an die Freizeit bzw. an die Zeit draußen, außerhalb
einer meist von anderen beanspruchten beruflichen Zeit auch, nicht
zuletzt jedoch an eine immer wieder provokativ gebrauchte, politische
Drohung Time is out! - Die Zeit ist aus!, die von Herrschsüchtigen
nicht nur als Ultimatum gegen gleichfalls Herrschsüchtige vor
einem Angriffskrieg ausgestoßen wird, sondern zusehends -
unzulässig - auch unseren Alltag zu durchdringen sucht. TIME•OUT
- Instrumentales Theater für zwei Vokalistinnen, Klarinette,
Posaune, Violoncello, Akkordeon, Tonband und Video basiert auf Agnes
Martins Parable of the Equal Hearts (2003).
[Aus: Vorwort der Partitur (2003)]
TWILIGHTS - PROTOKOLLE FÜR TONBAND
Morsecodes hatte ich schon einmal verwendet, nämlich in twilights
- Protokolle für Tonband, die 1983 am Computermusik-Zentrum
der Stanford Universität und im Elektronischen Studio der Folkwanghochschule
in Essen realisiert wurden. Dort bildet das Morsen allerdings eine
eigene Schicht (mit einem Text von Marx, den vielleicht revolutionäre
Funker noch entziffern könnten), die hauptsächlich charakterisiert
ist vom bloßen Codieren konkreter Mitteilungen und zwar inhaltliche
Bezüge zum zum übrigen Material aufweist, aber nicht bestimmend
wird für die gesamte Komposition.
[Aus: Call a Spade Spider a Spade. Rückstahlungen
von Reisen (1992)]
WARNUNG MIT LIEBESLIED
Im Trio Warnung mit Liebeslied (1986) beschäftigte
ich mich - nach der frühen Erkrankung eines nahen Freundes
- mit dem Thema AIDS, mit der schleichenden, erst unsichtbaren Vereinnahmung
eines infizierten Körpers, mit der Chance, die in der Brechung
des Tabus "Tod" steckt, mit der Chance auch, die das Persönliche,
das, "wonach einer Liebender sich sehnt" (Sappho) gegen ach so mächtige
Anforderungen öffentlicher Macht stellt. Dazu sammelte ich
gesungene, gespielte Klang- und Melodiefetzen von Bettlern in Lissabon
und kombinierte sie mit Klängen der Samba, die ursprünglich
auf zwischen zerbrochenem Glas und Feuer getanzten Zeremonien afrikanischer
Bantus zurückgehen. Die Instrumentation mit Akkordeon, Harfe
und Glasschlagwerk ist darauf ausgerichtet wie auch das geheime
Gerüst des Trios, das insbesondere Zahlenkombinationen aus
11, 13, 17, teilweise aus Vielfachen davon, bildet. Die Zusammensetzung
der kompositorischen Elemente geschieht dabei in erster Linie aus
inhaltlichen Erwägungen, denn von Anfang an geraten zwei Strukturen
- eine elegisch-rhythmische und eine mechanisch-gleichgerichtete
- zunächst unmerklich, dann immer auffälliger in Auseinandersetzung.
Die mechanisch-gleichgerichtete, die alles einebnende, egalisierende
dominiert schließlich, wird jedoch so schnell, dass sie sich
wegen ihrer quasi unspielbaren Geschwindigkeit in ihr Gegenteil
verkehrt und (auf Grund von Balggeräuschen des Akkordeons)
zu atmen beginnt.
[Aus: Heterotopien Zahlen (2001)]
]with what eyes?[
]with what eyes?[ ist inspiriert von Texten Sapphos des griechisch-englischen
Gedichtbandes "IF NOT, WINTER" mit Übersetzungen der amerikanischen
Dichterin Anne Carson, in denen zwischen einzelnen Lauten, Silben
und Worten trotz Jahrtausende langer Erosion auch Zeilen und Strophen
überliefert werden, die tiefe Kenntnis des dornenreichen menschlichen
Zusammenlebens dokumentieren. Die verlorenen Liedteile zwischen
den Fragmenten, die stummen Texte also, regen jedoch ebenfalls auf
besondere Weise die Phantasie an, reizen zum kombinatorischen Nachdenken
und lassen die Weisheit der antiken Sängerin erahnen - und
ihre Umsicht. Gerade sie stellen Fragen, unterschiedliche Blickwinkel
auf Dinge provozierend und sind - wie der Titel ]with what eyes?[
(mit welchen Augen zu sehen?), ein für sich stehendes Fragment
der Sappho - Quell vielseitiger An- und Einsichten.